Prototyp vs. Serie: Wann ist der richtige Zeitpunkt zum Skalieren?
Leitfaden 26. Dezember 2025 13 Min.

Prototyp vs. Serie: Wann ist der richtige Zeitpunkt zum Skalieren?

Der Sprung zur Serienfertigung birgt Risiken – aber auch Chancen. Das 5-Stufen-Reifegradmodell hilft bei der Entscheidung.

Hommer Zhao

Hommer Zhao

Gründer & CEO, WellPCB

Der Sprung vom Prototyp zur Serienproduktion ist einer der kritischsten Momente in der Produktentwicklung. Zu früh skaliert, verbrennen Sie Geld für Tooling und Materialien, die bei der nächsten Designänderung obsolet werden. Zu spät skaliert, verpassen Sie den Markteintritt und überlassen der Konkurrenz das Feld. Die Kunst liegt im richtigen Timing – und in der Vorbereitung.

In über 15 Jahren Fertigung von Leiterplatten und elektronischen Baugruppen habe ich beide Extreme erlebt: Kunden, die mit Version 1.0 direkt in die Massenproduktion gegangen sind (und bitter bereut haben), und Kunden, die nach dem zehnten Prototypen immer noch "noch eine Kleinigkeit" ändern wollten. In diesem Artikel zeige ich Ihnen, wie Sie den optimalen Zeitpunkt für die Skalierung erkennen.

Die Kernaussage dieses Artikels

Die Entscheidung zur Skalierung ist keine Frage von "fertig oder nicht fertig", sondern eine wirtschaftliche Optimierung zwischen Risiko und Opportunitätskosten. Der richtige Zeitpunkt liegt dort, wo die Kosten weiterer Prototypen-Iterationen die potenziellen Einsparungen durch Designverbesserungen übersteigen.

Was ist ein Prototyp, was ist Serie?

Bevor wir über den Übergang sprechen, sollten wir die Begriffe klar definieren – denn in der Praxis gibt es viele Zwischenstufen:

PhaseStückzahlZweckTypische Kosten
Proof of Concept1-3 StückMachbarkeit beweisenHöchste Stückkosten
Funktionsmuster5-20 StückDesign validieren, testenHohe Stückkosten
Vorserie (Pilot)50-500 StückProzess validieren, FeldtestMittlere Stückkosten
Kleinserie500-5.000 StückErste Kunden, MarkttestReduzierte Stückkosten
Serienfertigung>5.000 StückSkalierter VertriebNiedrigste Stückkosten

Der klassische Fehler: Phasen überspringen

Ein häufiger Fehler, besonders bei Start-ups unter Zeitdruck: Der Sprung direkt vom Funktionsmuster in die Serienfertigung. Das Problem: Die Vorserie existiert aus gutem Grund. Sie validiert nicht nur das Produkt, sondern auch:

  • Fertigungsprozesse: Kann die Serie überhaupt reproduzierbar gefertigt werden?
  • Lieferkette: Sind alle Bauteile in Serienstückzahlen verfügbar?
  • Testverfahren: Skalieren die Prüfmethoden?
  • Dokumentation: Ist alles für Audit und Zertifizierung vorbereitet?
Hommer Zhao

Ein Prototyp, der funktioniert, ist noch lange kein serienreifes Produkt. Die Vorserie zeigt, ob Ihr Design auch die zehnte, hundertste und tausendste Einheit überlebt.

Hommer Zhao

Gründer, pcbleiterplatte.com

Das 5-Stufen-Reifegradmodell

Um den optimalen Skalierungszeitpunkt zu bestimmen, nutzen wir ein Reifegradmodell mit fünf Dimensionen. Jede Dimension muss einen gewissen Reifegrad erreichen, bevor die Skalierung sinnvoll ist.

Elektronikfertigung: Vom Prototyp zur Serie

Dimension 1: Technische Reife

ReifegradKriterienBereit für
★☆☆☆☆Konzept funktioniert auf BreadboardProof of Concept
★★☆☆☆Erstes PCB funktioniert mit NacharbeitenFunktionsmuster
★★★☆☆Design besteht alle FunktionstestsVorserie planen
★★★★☆EMV, Umwelttests bestandenVorserie starten
★★★★★Qualifikation abgeschlossen, keine offenen PunkteSerienfertigung

Dimension 2: Fertigungsreife (DFM)

Design for Manufacturing (DFM) ist entscheidend für erfolgreiche Skalierung. Ein Design kann technisch perfekt sein und trotzdem Fertigungsprobleme verursachen.

DFM-Checkliste für Skalierung

  • □ Alle Bauteile als SMD (wo möglich) – THT erhöht Fertigungskosten
  • □ Bauteil-Orientierung vereinheitlicht (ICs in gleicher Richtung)
  • □ Keine Bauteile unter 0402 ohne zwingenden Grund
  • □ Testpunkte für ICT eingeplant
  • □ Panel-Design optimiert (Nutzenausnutzung)
  • □ Stencil-Design verifiziert (Aperture-Verhältnisse)
  • □ Reflow-Profil für alle Bauteile kompatibel
  • □ Keine thermisch kritischen Bestückungsreihenfolgen

Dimension 3: Supply Chain Reife

Die Lieferkette ist oft der unterschätzte Flaschenhals. Ein Bauteil, das im Prototypen problemlos vom Distributor kam, kann in Serienstückzahlen Lieferzeiten von 52 Wochen haben – oder gar nicht verfügbar sein.

RisikolevelSituationMaßnahme
NiedrigStandard-Bauteile, multiple QuellenRahmenvertrag abschließen
MittelSingle Source, aber verfügbarSecond Source qualifizieren
HochLange Lieferzeiten (>16 Wochen)Buffer-Lager aufbauen
KritischEOL/NRND Status, keine AlternativeRedesign vor Skalierung!
Hommer Zhao

Ich habe Projekte erlebt, die monatelang auf einen einzigen Mikrocontroller warten mussten. Ein Redesign hätte drei Wochen gedauert. Die Lehre: Prüfen Sie die Lieferkette, bevor Sie skalieren.

Hommer Zhao

Gründer, pcbleiterplatte.com

Dimension 4: Dokumentationsreife

Für Prototypen reicht oft das, was "im Kopf des Entwicklers" steckt. Für Serienproduktion brauchen Sie vollständige, versionierte Dokumentation:

  • Schaltplan und Layout: Geprüft, freigegeben, versioniert
  • Stückliste (BOM): Mit Hersteller, Bestellnummer, Alternativen
  • Bestückungszeichnung: Mit Polaritätsmarkierung
  • Fertigungsdaten: Gerber/ODB++, Pick-and-Place, Stencil
  • Testspezifikation: Was wird wie geprüft?
  • Arbeitsanweisungen: Für manuelle Prozesse
  • Qualitätskriterien: Was ist OK, was ist NOK?

Dimension 5: Regulatorische Reife

Je nach Zielmarkt und Anwendung gelten unterschiedliche Anforderungen:

Markt/AnwendungTypische AnforderungenVorlaufzeit
EU ConsumerCE (EMV, LVD), RoHS, WEEE4-8 Wochen
EU IndustrieCE (Maschinenrichtlinie), EN 610108-12 Wochen
AutomotiveIATF 16949, PPAP, FMEA3-6 Monate
MedizintechnikMDR, ISO 13485, 606016-18 Monate
USAFCC, UL (falls erforderlich)6-12 Wochen

Wichtig für 2026

Die neue EU-Maschinenverordnung (EU) 2023/1230 tritt 2027 vollständig in Kraft. Wenn Sie 2026 mit der Serienproduktion starten, sollten Sie die neuen Anforderungen bereits berücksichtigen – Nachrüsten ist teurer als richtig planen.

Kostenvergleich: Prototyp vs. Serie

Ein wesentlicher Faktor bei der Skalierungsentscheidung sind die Stückkosten. Diese sinken mit steigender Menge – aber nicht linear, sondern in Stufen.

Kostentreiber bei Prototypen

KostenfaktorPrototyp (1-10 Stück)Serie (>1.000 Stück)
PCB-Fertigung50-150 €/Stück2-10 €/Stück
Stencil80-150 € (einmalig)300-800 € (Rahmen-Stencil)
Bauteil-HandlingEinzelne Tapes/TraysRollen, Feeder-Setup
BestückungManuell/Semi-AutoVollautomatisch
TestFlying Probe + manuellICT-Fixture + FCT
RüstkostenHoch pro StückGering pro Stück

Die "Break-Even"-Analyse

Ab welcher Stückzahl lohnt sich die Investition in Serien-Tooling? Eine vereinfachte Rechnung am Beispiel:

Beispiel: SMD-Baugruppe mit 200 Bauteilen

Option A: Prototypen-Modus

  • Stückkosten: 85 €
  • Setup: 200 € einmalig

Option B: Serien-Modus

  • Stückkosten: 35 €
  • Setup: 2.500 € (Stencil, ICT-Fixture, Programmierung)

Break-Even: 2.500 € / (85 € - 35 €) = 50 Stück
Ab 50 Stück ist die Serien-Investition rentabel.

Hommer Zhao

Rechnen Sie immer den Gesamtlebenszyklus. Wenn Sie über 3 Jahre 2.000 Stück brauchen, lohnt sich das Serien-Tooling ab Tag eins – auch wenn die erste Lieferung nur 100 Stück umfasst.

Hommer Zhao

Gründer, pcbleiterplatte.com

Die 5 häufigsten Skalierungsfallen

Aus meiner Erfahrung mit hunderten von Projekten hier die häufigsten Fehler beim Übergang zur Serie:

Falle 1: "Der Prototyp funktioniert doch!"

Das Funktionieren eines Prototypen beweist nur, dass das Konzept grundsätzlich trägt. Es beweist nicht:

  • Dass die Schaltung auch bei Bauteil-Toleranzen funktioniert
  • Dass das Produkt auch bei 85°C noch läuft
  • Dass die EMV-Anforderungen erfüllt werden
  • Dass 1.000 Einheiten identisch gefertigt werden können

Falle 2: Keine Second Sources

Wenn ein Bauteil nur von einem Hersteller kommt und dieser Lieferprobleme hat, steht Ihre gesamte Produktion still. Regel: Mindestens zwei qualifizierte Quellen für jeden kritischen Bauteil.

Falle 3: Tooling-Kosten unterschätzen

Die offensichtlichen Kosten (Stencil, ICT-Fixture) sind nur die Spitze. Versteckte Kosten umfassen:

  • Programmierung von AOI, Pick-and-Place, ICT
  • Erstmusterprüfung (PPAP bei Automotive)
  • Qualifikationstests
  • Dokumentationserstellung
  • Schulung der Fertigungsmitarbeiter

Falle 4: Designänderungen während Ramp-Up

Nichts ist teurer als eine Designänderung, wenn die Serienfertigung bereits läuft. Tooling muss angepasst, Material verschrottet, neue Tests entwickelt werden.Design-Freeze bedeutet Design-Freeze.

Falle 5: Kapazitätsplanung vergessen

Ihr Fertiger hat auch andere Kunden. Wenn Sie von 100 auf 10.000 Stück springen, braucht er Vorlaufzeit für Materialplanung, Kapazitätsreservierung und Personal.Kommunizieren Sie Ihre Bedarfsprognose mindestens 3-6 Monate im Voraus.

Die Vorserie richtig nutzen

Die Vorserie ist Ihre letzte Chance, Probleme zu finden, bevor sie teuer werden. Nutzen Sie sie strategisch:

Was die Vorserie validieren sollte

AspektPrüfungAkzeptanzkriterium
FertigbarkeitFirst-Pass-Yield messen>95% (ideal: >98%)
ProzessfähigkeitCp/Cpk kritischer MerkmaleCpk >1,33
TeststrategieTestabdeckung, False-Call-Rate<1% False Calls
ZykluszeitTaktzeit pro StationEngpass identifiziert
FeldtestBeta-Kunden-FeedbackKeine kritischen Issues

Optimale Vorseriengröße

Die richtige Stückzahl für die Vorserie hängt von mehreren Faktoren ab:

  • Statistische Signifikanz: Mindestens 30 Stück für aussagekräftige Daten
  • Feldtestbedarf: Wie viele Beta-Kunden/Testgeräte?
  • Qualifikationstests: Destruktive Tests (Umwelt, Zuverlässigkeit)
  • Zertifizierung: Muster für Prüflabore
  • Schulung: Samples für Training

Faustregel: 100-300 Stück für die meisten Industrieanwendungen,500+ Stück für Automotive mit PPAP-Anforderung.

Checkliste: Sind Sie bereit für die Serie?

Nutzen Sie diese Checkliste vor der Freigabe der Serienfertigung:

✓ Skalierungs-Readiness-Checkliste

  • Technisch:
  • □ Alle Funktionstests bestanden
  • □ EMV-Prüfung abgeschlossen
  • □ Umwelttests nach Spezifikation bestanden
  • □ Keine offenen Designpunkte
  • Fertigung:
  • □ DFM-Review abgeschlossen
  • □ Vorserie mit >95% First-Pass-Yield
  • □ AOI/ICT/FCT-Programme verifiziert
  • □ Reflow-Profil freigegeben
  • Supply Chain:
  • □ Alle Bauteile verfügbar/bestellt
  • □ Second Sources für kritische Teile
  • □ Rahmenverträge abgeschlossen
  • Dokumentation:
  • □ Fertigungsunterlagen freigegeben
  • □ BOM eingefroren und versioniert
  • □ Qualitätskriterien definiert
  • Regulatorisch:
  • □ CE/FCC/UL-Zertifizierung erhalten oder geplant
  • □ Technische Dokumentation vollständig
  • □ Rückverfolgbarkeit gewährleistet

Fazit: Skalierung ist ein Prozess, kein Moment

Der Übergang vom Prototyp zur Serie ist selten ein einzelner Entscheidungsmoment, sondern ein mehrstufiger Prozess, der sorgfältige Planung erfordert. Die Vorserie ist dabei keine Verschwendung, sondern eine Investition in Qualität und Effizienz.

Bei pcbleiterplatte.combegleiten wir unsere Kunden durch alle Phasen – von der ersten Prototypen-Leiterplatte über die validierte Vorserie bis zur skalierten Serienbestückung. Unsere Erfahrung zeigt: Wer die Hausaufgaben in der Entwicklung macht, spart in der Serie Zeit, Geld und Nerven.

Bereit für den nächsten Schritt?

Ob Sie gerade am Prototypen arbeiten oder die Serienfertigung planen – wir beraten Sie gerne zur optimalen Strategie für Ihr Projekt.

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Hommer Zhao

Gründer & CEO, WellPCB

Mit über 15 Jahren Erfahrung in der Elektronikfertigung leitet Hommer Zhao das Team bei WellPCB. Seine Leidenschaft: Komplexe technische Themen verständlich erklären.

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